Letzte Aktualisierung am 25. Januar 2018
Über 20 Jahre Nachtarbeit – damit ist bald Schluss. So dürften einige gestern Nacht um kurz nach 1:00 Uhr einen Kloß im Hals gehabt haben, als der 57jährige Jürgen Domian direkt zu Beginn seiner werktäglichen Talk-Sendung bei 1Live verkündete, dass er zum Ende 2016 sein erfolgreiches Radioformat einstellen wird. Er begründete diesen Schritt damit, dass 20 Jahre Nachtarbeit nicht spurlos an einem vorbei gingen und er auch mal wieder öfter die Morgensonne sehen wolle. Eine Meinung, die ich nur zu gut nachvollziehen kann.
Als ich Jürgen Domian im Radio kennenlernte, war an seine Talksendung noch nicht zu denken. Er selbst begann seine Kariere neben dem Germanistik- und Philosophie-Studium als Kabelträger beim WDR Fernsehen, bis er im Radio entdeckt wurde. Zunächst übernahm er die zuvor von Chris Howland moderierte Sendung „Blue Monday“. Später, ab 1995, moderierte er freitags die heiße Nummer innerhalb des Jugendmagazins „Riff – der Wellenbrecher“ auf damals noch WDR1. Hier konnten Jugendliche anrufen und ihre Probleme schildern. Das Jugendmagazin wurde werktags um 15:00 Uhr ausgestrahlt, so dass Jürgen Domian sich den Sendeplatz mit verschiedenen Moderatoren teilte. Neben der heißen Nummer präsentierte Riff ein oder mehrere feste Themen pro Sendung mit Musikunterbrechungen. Zu dieser Zeit war das Jugendformat, wie es N-Joy, You-FM und 1Live unter Anderem präsentieren, noch nicht allgegenwärtig. Somit war es gut, dass der öffentlich-rechtliche Hörfunk nicht nur Erwachsene und Kinder, sondern auch die Zielgruppe dazwischen unterhalten wollte.
Da die Themenschwerpunkte in der heißen Nummer nicht immer jugendfrei waren, wurde der Sendeplatz auf nachts um 1:00 bis 2:00 Uhr verlegt. Zudem wurde die Domian Talkshow nun fünfmal wöchentlich ausgestrahlt, so ist es heute auch noch. Dabei gab es zu Anfang zwei Sendungen pro Woche mit festem Themenschwerpunkt, heute ist dieser nur noch mittwochs. Die anderen Tage sind freie Themennächte, zu der über alles geplaudert werden darf. Zuweilen stellt Domian ein aktuelles Thema in den Raum und fordert die Anrufer dazu auf, Stellung zu beziehen. Sicherlich ist die Art der Call-In-Formate, wie Domian sie präsentiert, keine deutsche Erfindung. In den USA gab es das schon länger, hierzulande konnten ihm auch Nachahmer von der Qualität und den Einschaltquoten kaum das Wasser reichen.
Die parallele Ausstrahlung im Radio und Fernsehen sorgt auch für eine Art Nähe, denn die Gesten und Reaktionen von Domian sind dadurch auch visuell wahrzunehmen. Seit fast 20 Jahren sitzt Jürgen Domian nun in seinem Studio, begleitet von seinem weißen Hirsch und der unglaublichen Empathie, mit der er den Meisten der über 20.000 Anrufer mit seinem Rat und Erfahrungsschatz hilfreich zur Seite steht. Dabei ist hervorzuheben, dass er jeden Anrufer respektvoll und individuell behandelt und ihm das Gefühl der Nähe vermittelt und eine Hilfsbereitschaft, die spürbar vom Herzen kommt. Dabei ist auch eine großartige Leistung, dass er sich von Anrufer zu Anrufer schnell in das neue Thema einfinden kann. Nichts ist ihm fremd, ob extreme Sexvorlieben oder Straftäter, Mörder, Misshandelte, Behinderte, Totkranke oder Flüchtende, alle haben schon bei ihm angerufen und allen zollt er seinen Respekt. Allerdings auch nur bis zu einem gewissen Grad, denn menschlich macht ihm, dass er nicht konsequent für jedes abstrakte Thema Verständnis entgegenbringt. So war er des Öfteren als fassungslos zu beobachten, als eine Sozialhilfeempfängerin zum Thema Schmarotzer anrief und ihm klar machte, dass sie die Dummheit der arbeitenden Bevölkerung für sich schamlos ausnutzen würde. Als diese einige Zeit später erneut anrief, versprach er ihr, juristische Konsequenzen in die Wege zu leiten.
Kritisch könnte man bemerken, dass er manchen meinungsfremden Anrufer nicht immer ausreichend zu Wort kommen lässt, da er sich entsprechend echauffiert. Diese menschlichen Züge sehe ich allerdings als positiv an, denn Verständnis hat niemand für jedes Ansinnen. Dies passierte beispielsweise, als ein Anrufer ihm seine Lebensphilosophie unterbreitete, warum er aus Überzeugung Menschen wiederholt finanziell ausgebeutet hat. Immerhin sei die Welt ohnehin schlecht und warum sollte er dann als guter Verlierer dem System entgegen stehen. Auf solche Anrufer reagiert Domian stets respektvoll und menschlich und hat stets eine klare Haltung zu den Dingen. So auch, als ein über 40jähriger Mann ihm gestand, mit der 15jährigen Freundin seiner Tochter ein Verhältnis zu haben und mit ihr im häuslichen Umfeld verkehrt, während Tochter und Frau schlafen. Als sich herausstellte, dass dieses Mädchen ein Missbrauchsopfer ist, riet Domian ihm umso mehr, dieses Verhältnis schnellstens zu beenden.
Privat ist Jürgen Domian auch nicht untätig, so unterstützt er das Dr. Mildred Scheel Haus des Palliativzentrums Köln, hat einige Romane und Bücher geschrieben und ist Mitglied der SPD. Zudem ist er ein Befürworter der Sterbehilfe, wobei sein Ja dazu von der Hospiz-Stiftung kritisiert wurde. Da er unter Anderem Philosophie studierte und aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit im Radio eine Menge Lebenserfahrung sammeln konnte, hat er klare Haltungen zu den Dingen im Leben, die er auch nach seinem Gefühl äußert und in Büchern niederschrieb. Dass solche Menschen schnell ins Kritikfeuer geraten, liegt auf der Hand. Im Januar 2003 wurde er für sein soziales Engagement mit der Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Er war mit Dirk Bach befreundet, der mit Hella von Sinnen in einer WG wohnte, die er bereits aus der Oberstufe kennt. Daher ging er in dieser WG ein und aus und stammt ebenfalls aus Gummersbach. Wer seine Sendung mehr oder weniger regelmäßig über die letzten 20 Jahre hin verfolgt hat, könnte eine erstaunliche Entdeckung gemacht haben: Für mich ist Jürgen Domian wie ein sehr guter Bekannter, der im Gegensatz dazu von mir überhaupt nichts weiß. Alleine, wenn man die Gespräche beobachtet, lernt man ihn, seine Einstellung und sein Verhalten so gut kennen, als ob man mit ihm jahrelang in derselben Kneipe am Tresen gesessen und nie ein Wort mit ihm gewechselt hätte. Diese abstrakte, einseitige Bindung zwischen Publikum und Moderator ist aufgrund dieser langen Zeit im deutschen Hörfunk wohl unvergleichlich und es ist fraglich, ob dies je einer wiederholen könnte. Denn jede Telefon-Talksendung, die es in anderer Qualität auch bei anderen Sendern gibt, muss sich an Domian messen lassen. Hier hat er ohne jeden Zweifel einen Meilenstein gesetzt, der wohl nur schwer zu übertreffen ist und ganz nebenbei dutzenden Menschen das Leben gerettet oder erträglicher gemacht. Aber er ist damit nicht alleine, denn ein Team aus Psychologen, Redakteuren und Technikern wacht jede Nacht an seiner Seite und sorgt dafür, dass nicht jeder Anrufer durchkommt oder auch eine notwendige Nachbetreuung gewährleistet ist. Das ist auch gut so, obgleich gelegentlich auch ein Fake-Anrufer durchgestellt wird, der wiederum einem potenziell hilfsbedürftigen Menschen die Sendezeit stiehlt.
Der wohl beste Scherzanrufer war Stefan Raab, der sich als Jasmina über seine tiefe Stimme beklagte. Inzwischen ist Domian auch im Internet sehr aktiv vertreten, so gibt es Fanseiten bei sozialen Netzwerken und auch die Sendungen werden für weniger nachtaktive Menschen als Podcast zum Nachhören bereitgestellt. Interessant ist, dass sich einige auch die Mühe machen, die Anrufer zu protokollieren und zeitlich zu erfassen, so dass man selektiv Themen nachhören kann. Dies hat einen bitteren Beigeschmack, denn auch Voyeure kommen hier auf ihre Kosten, jedoch bietet es Menschen im schwierigen Zeiten die Möglichkeit, stichpunktartig nach bestimmten Themen zu suchen und möglicherweise ein gleichartiges Problem zu entdecken. Negativ sehe ich die Entwicklungen in den sozialen Medien, in denen doch der Voyeurismus nicht zu kurz kommt und sogar Wetten abgeschlossen werden, was für brisante Anrufer in der Sendung auftreten. Ein Hobby, das ich als etwas respektlos den Anrufern gegenüber empfinde, die sich als nicht archivierte Momentaufnahme im Radio wähnen.
Unabhängig davon handelt es sich bei Jürgen Domian um einen ganz speziellen Moderator, der etwas erreicht hat, was hierzulande bislang keiner erreichen konnte. Und wenn er sich auch die Nächte um die Ohren schlägt, hat er wohl eine Lebenserfahrung, die Zweifels ohne den meisten Menschen vorbehalten bleiben dürfte. Ich bin gespannt, was als Nächstes kommt, denn in den Ruhestand will er sich zunächst nicht begeben.
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