Von BAUM zu VisioBraille, eine Traditionsmarke lebt weiter

Die ursprüngliche Fassung dieses Artikels erschien im Januar 2018 und sollte meinen Lebensweg maßgeblich beeinflussen und meine eher kritische Einstellung zu Produkten von BAUM in einem anderen Licht erscheinen lassen. Vielleicht war genau dieser Text der Grund dafür, dass die Marke VisioBraille überhaupt entstand, aber alles der Reihe nach.

BAUM, das Ende einer Traditionsmarke

Im Archiv der Mails unserer merkst.de-Community musste ich das Ganze erst einmal nachvollziehen, immerhin ist das alles mit Stand 2025 schon einige Jahre her. Der Vorteil im Internet ist, dass sich Texte schnell aktualisieren lassen und die Geschichte kann somit fortgeschrieben werden. Das ist auch wichtig, denn BAUM lebt als VisioBraille weiter.


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Schon länger prognostiziere ich den Zusammenbruch der Hilfsmittelbranche, jetzt hat es den ersten aus Deutschland getroffen. Die BAUM Retec AG, umgangssprachlich als BAUM bezeichnet, geht in die Geschichte als einer der wenigen Entwickler von Blindenhilfsmitteln ein, der als Vollsortimenter alle Bereiche abgedeckt hat. Diese Aussage hat inzwischen nunmehr an Aktualität gewonnen und nicht nur die Metec AG ist inzwischen als einstig größter Braillemodulhersteller insolvent, sondern auch andere Unternehmen der Branche wurden umgebaut oder haben sich verkleindert. Der Markt gerade im Bereich Braille ist hart umkämpft und die Akzeptanz von Braille weltweit sinkt stetig, so dass Hersteller wie HumanWare keine 80stelligen Braillezeilen mehr produzieren.

Optacon

Im Jahr 1980 gründete Wolfgang Baum ein Ingenieurbüro und importierte Blindenhilfsmittel für den privaten und beruflichen Alltag vorwiegend aus den USA unter Anderem von Telesensory, heute HumanWare. Bekannte Vertreter waren das 1971 entwickelte Optacon als taktiles Lesegerät, die Bildschirmlesegeräte der Voyager-Familie und später Personal Reader und The Reading Edge, siehe auch die Artikelserie zum Thema Blindenhilfsmittel. Nicht zu vergessen ist der BAUM Braille Buttler, ein Gegenentwurf zu blindenspezifischen Braillecomputer wie das VersaBraille.

BAUM Pronto! 18 V4

Später erfolgte die eigene Entwicklung. von Braillezeilen, Lesegeräte und sogar Screenreader. BAUM BM-80, David, der Import der ELVIS Brille zum Sehen, die es sogar bis in die Sendung von Margarethe Schreinemakers in den 90ern schaffte, BAUM hatte einen beständigen Namen in der Branche. In den Nullerjahren wurden Vario, Visio, Poet und Virgo Akronyme bekannter Produktlinien. Kurz darauf folgten Produktionen von Braillezeilen sogar für HumanWare und APH, beispielsweise die richtig süße Refreshabraille aus 2015, die es leider nie nach Deutschland schaffte.

APH Refreshabraille

Im Jahr 2003 wurde der Mitbewerber Frank Audiodata übernommen, der aufgrund einer komplett gegensätzlichen Philosophie nicht zum eigenen Produktportfolio passte. Während Audiodata bei Blindows auf die von der PC-Tastatur entkoppelte Bedienung setzte und die Audio- und Braillebox als CE-Box fortführte, verfolgte BAUM die gegensätzliche Philosophie und Virgo wurde ausschließlich über die PC-Tastatur bedient. Dennoch gibt es zahlreiche Fans, die heute noch Cobra und den Brailleorganizer Pronto! gerne einsetzen, gewartet werden können die Geräte übrigens immer noch, dazu später mehr.

Gerüchte und Übernahme mit Tücken

Die Verheißungen im ersten Newsletter nach der Übernahme von Audiodata durch BAUM ließen Großes vermelden, man würde beide Kräfte vereinen und das beste Produkt aus beiden Welten schaffen. Nur wurden diese Zeilen ohne die Absprache der beiden Entwickler-Teams geschrieben, die sich nicht ganz über diese Fusionierung einig waren. Am Ende siegte Virgo, aus dem das spätere Cobra hervorging und Blindows wurde abverkauft und auch die innovativen Bedienkonzepte von Audiodata verloren mehr und mehr an Bedeutung. Schlussendlich blieb nichts mehr davon übrig, außer die patentierten TASO-Schieber als Ergänzung zur VarioPro und einige ehemalige Mitarbeiter. Das einstige Aluminiumdesign von Audiodata blieb in einigen Produkten bestehen, beispielsweise Pronto! 40. Das Prinzip der BMW-Zeilen mit vielen Bedientasten an der Front, zugegeben war das ein Abklatsch der Deininger Pegasus-DW-Linie, musste den vier drückbaren Rollbars der VarioPro weichen.

Frank Audiodata Braillebox und Sprachbox

Als Branchenkenner hat man das Gerücht, BAUM sei insolvent, schon mehrfach gehört. Doch gab es nie Bestätigungen darüber, außer gelegentliches Jammern einiger Unternehmenssprecher über die schwierige Marktsituation. Darin sah ich bislang nur Taktik, doch scheint mehr dran gewesen zu sein, denn im Sommer 2017 wurde die ordentliche Insolvenz offiziell. Am 5. Januar 2018 waren Support und Webseite nicht mehr erreichbar. Dennoch gab es im Verlauf der Firmengeschichte einige seltsame Gerüchte und auch Aussagen aus erster Hand, die ich erfuhr. Jüngstes Beispiel ist ein blinder Mitarbeiter, der von einen Tag auf den anderen vor Ablauf der Probezeit mit fadenscheinigen Gründen entlassen wurde. Auch sind mir Mitarbeiter bekannt, die über ausbleibende Gehaltszahlungen und Abfindungen der letzten Jahre berichteten. Schlussendlich entstanden neue, kleine Unternehmen im Hilfsmittelbereich, deren Geschäftsinhaber ehemalige BAUM-Mitarbeiter waren. Ein Beispiel ist A-L-U Technik für Blinde und Sehbehinderte, gegründet von Jörg Augustin, Klaus Lindemann und Holger Ulrichsohn, die ihr Können ehemaligen BAUM-Kunden zur Verfügung stellen. Gleichzeitig bieten branchenführende Unternehmen die Wartung älterer BAUM-Produkte an. Aber sind wir mal ehrlich, Wartung heißt hier Kaputtschreiben und Neuversorgen, ein altbekannter Branchentrick.

VisioBraille Poet Compact 2

Auch dem plötzlichen Umzug vom Firmensitz im Heidelberger Schloss Langenzell soll eine Räumungsklage vorausgeeilt sein. Ein Gerücht, das inzwischen von einer Zeitzeugin dementiert wurde, die mit BAUM auf Schloss Langenzell aufgewachsen ist. HTatsächlich lag das Problem darin, dass aufgrund des verstorbenen Inhabers die Erbfolge einen weiteren Bezug unmöglich machte und somit der Firmensitz verlagert werden musste. BAUM war in drei Bereiche aufgegliedert, die für den Vertrieb, Softwareentwicklung und Produktion zuständig waren, die PTS aus Jena wird uns später noch begegnen. Dass eine Insolvenz entgegen aller Gerüchte erst 2017 erfolgte, kann auch an den Verträgen und Großkunden gelegen haben, immerhin hatte BAUM bei einigen Behörden den Fuß in der Tür und gerne mal deren Klinken geputzt. Dies weiß ich definitiv, weil es einem Kunden von mir so erging. Dieser wollte ausdrücklich durch mich an seinem Arbeitsplatz versorgt werden und sein Sachbearbeiter berichtete von einem Anzugträger mit Lackschuh und Aktenkoffer, der persönlich vorsprach um mein Angebot zu unterbieten. Diese Masche brachte ihnen zwei Ausladungen bei Hilfsmittelausstellungen im Rheinland ein und so wurde eine Versorgung durch mich alleine dadurch bekräftigt.

Ein Verlust für die Branche?

Es ist sicher nicht übertrieben, dass BAUM bei mir wenig Sympathie hervorrief und dies nicht nur aus obiger Erfahrung. In einem Screenreader-Test, den ich 2004 durchführte, viel Virgo gnadenlos durch, da es ungefragte Änderungen an meinem System vorgenommen hat, die zudem nicht dokumentiert wurden. Die Vergrößerung Galileo ruckelte zudem und das war auch später bei Cobra noch der Fall und dauerte Jahre, bis man dies in den Griff bekam. An einem mir bekannten Arbeitsplatz wurde daher auf die Windows-Bildschirmlupe umgestellt, mit der ein flüssigeres Arbeiten möglich war. Der Organizer Pronto!, der sich auch heute noch großer Beliebtheit erfreut, ist aufgrund abgekündigtem Windows CE.NET nicht mehr zeitgemäß. Mailprogramm und Browser funktionieren nur noch sehr eingeschränkt und die DAISY-Funktion und Editor reichen nicht, um ihn noch zu empfehlen. Damals bei seinem Erscheinen gab es gute Gründe für ihn und der PRONTO! 40 mit seiner wechselbaren Tastatur setzte dem PAC Mate von Freedom Scientific einiges entgegen.

VisioBraille VarioPro2 80 mit Apple Magic Keyboard

Die PTS in Jena konnte allerdings Hardware, der heute noch im Boot sitzende Philipp Moog hat fast alle selbst montiert und so kann man die späteren Produkte ab Mitte der Nullerjahre als Manufaktur beschreiben. Das ist auch der Grund, warum Pronto!, VarioPro und andere heute noch repariert werden können. Das Tal der Tränen war aber nicht überstanden, das sollte sich noch zeigen.

Von BAUM zu VisioBraille

Sicher mit entscheidend für die Entwicklung war das ursprünglich von mir so geschriebene Fazit:

Seitdem große Betriebssystemhersteller eigene Screenreader integrieren, die mehr als brauchbar sind und auch die Open-Source-Community nicht still steht, hat sich der Markt verändert. Das haben offenbar viele noch nicht begriffen und setzen auf die Tradition des Vollsortiments und eigene Produkte, Schulungen und Service. Doch ist der heutige blinde Mensch, der ins Berufsleben einsteigt, bereits ausreichend ausgebildet und kann die Qualität von Produkten durchaus bewerten. Das war vor 20 Jahren anders, damals war der Computer noch nicht allgegenwärtig. Wenn aber ein Hersteller wie BAUM im Newsletter verkündet, dass Cobra endlich Office 2010 unterstützt, während Office 2013 lange auf dem Markt ist, kann von einem wettbewerbsfähigen Produkt wohl kaum die Rede sein. Ich bin davon überzeugt, dass dies nur der Anfang ist. Wenn die anderen deutschen Hersteller nicht unmittelbar und radikal ihre Strukturen ändern, kann es noch mehrere treffen. Der Umbau von Handy Tech in Help Tech spricht ebenfalls für sich. Vielleicht findet sich aber ein Investor und Baum kann in Teilen weiter bestehen, dann aber hoffentlich mit einer bodenständigen Unternehmensphilosophie.

Exakt der letzte Satz führte zu einer nicht folgenlosen Begegnung mit Gerald Schweitzer, einem der damaligen Geschäftsführer der VisioBraille GmbH. Er engagierte mich als quasi stiller Berater im Hintergrund und wollte unter neuem Namen mit der PTS in Jena eine Zukunft finden. Mit an der Seite waren der in Jena gut vernetzte Diplomingenieur Thomas Lucas, sowie Bardo Hoffmann, der mit Philipp Moog schon früher mit an Bord war und blieb, sowie auch schon die Zeiten von Audiodata mit bestritten hat. Die VisioBraille GmbH führte die Produkte fort und produzierte das VisioBook und VisioDesk, VarioUltra und Vario 340 weiter. Hinzu kommen das Visio 22 als Bildschirmlesegerät und der Service für ältere BAUM-Geräte. Ende 2021 stieß ich nach einigen Jahren der Beratung mit dazu und übernahm einen Teil des Kundenservice und unterstützte bei der Entwicklung. Dann entstand eine Synergie mit der Metec AG und Gerald Schweitzer investierte auch darin und wurde schlussendlich Mehrheitsaktionär. Somit wurde die Vario 4 geboren, die allerdings am Markt nicht bestehen konnte.

Visiobraille Vario4 Familie

Was wir nämlich nicht abschätzen konnten ist, dass die Metec AG Ende 2024 Insolvenz anmelden musste, das riss die VisioBraille GmbH mit und ein weiteres Kapitel wurde zugeschlagen. Das ist allerdings nur der Anfang von dem, was der Marke künftig bevorstehen wird, allerdings ohne Gerald Schweitzer und Bardo Hoffmann.

VisioBraille in der Gegenwart

Als die Insolvenz im April 2025 kam und das Tal der Tränen Mitte 2025 durchschritten wurde, konnte VisioBraille als eigenständige Marke in das Unternehmen LUCAS components GmbH eingegliedert werden. Alte Bekannte sind wie ich mit an Bord und neue Konzepte reifen, denn das Know-how von der LUCAS components GmbH kommt neuen Anstrengungen zugute. Thomas Lucas sieht in der Marke VisioBraille zurecht anerkannte Produkte, die weltweit geschätzt werden und eine Marke, die es sich lohnt zu erhalten. Das trifft auf großen Zuspruch von Händler und Endkunden, die sich vor Allem über die Sicherung der Supportleistungen freuen. Dennoch gibt es viel zu tun, das von allen Mitarbeitern mit Leidenschaft und Enthusiasmus angepackt wird, so auch von mir. Der Rest ist diesmal hoffentlich nicht Geschichte, sondern bleibt die Gegenwart und gestaltet die Zukunft.

6 Comments

  1. Adriani Botez said:

    Sehr gute Einschätzung. Mir war diese Entwicklung schon vor Jahren klar, als Mitarbeiter von Gaudiobraille versuchten die Software iRead als vollwertige Scansoftware zu verkaufen. Als ich ein Blatt mit einer Tabelle eingescant habe und gefragt habe, ob man das Dokument in HTML oder XLS konvertieren könne, war erstmal Unsicherheit zu spüren. Dann hieß es, nein das geht nicht. Die Tabelle war in iRead als solche überhaupt nicht lesbar. Noch klarer wurde es mir, als Papenmeier mein Arbeitsplatz getestet hatte und mir für ein Fadclient eine Jaws-Version für Terminal-Server verkaufen wollte. Dann noch eine Erweiterung für SAP, die es im SAP Market Place schon kostenlos gibt. Professionalität ist anders. Ich hoffe, dass es irgendwann innovative Startups für Hilfsmittel gibt. Startups, die mit Mittelständischen oder gar multinationalen Mainstream-Unternehmen zusammenarbeiten. Denn so können wertvolle Joint-Ventures entstehen und jeder kann davon profitieren. Vor allem wären damit die Hilfsmittel auch auf andere Technologien abgestimmt.

    27. Januar 2018
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    • Stephan said:

      Ja, das ist aus heutiger Sicht denke ich richtig. Aber man darf das Jetzt nicht mit dem Damals verwechseln, als Entwicklungen richtig teuer waren. Die ersten Hardware-Lösungen waren in der Produktion so aufwendig, dass ein Wechsel von ISA auf VESA ausreichte, dass die alten Dinger nicht mehr liefen. Mit anderen Worten wurde der Kram entsorgt und die Hersteller haben über kurze Zeit Notlösungen für grafische Benutzeroberflächen entwickeln müssen. Ganz ehrlich, das unternehmerische Risiko hätte ich nicht tragen wollen, die Pionierarbeiter waren damals sehr mutig. Nur als das Kalb großgezogen war, wurde die Kuh gemolken, bis heute. Man überlege sich, wie lange JAWS eigentlich zwischen Home und Pro unterschied, obwohl manch Anwender zufällig das „falsche“ Notebook mit einem Pro-Windows kaufte, das im Gegensatz zu Windows 98 vs. Windows NT technisch nicht mal mehr zwei Entwicklungsstränge einforderte. Ich weiß aus erster Hand, dass einige Firmen damals auch hohe Preise genommen haben, um zugleich ihre Produkte in Berufsbildungswerken zu finanzieren. Rechenbeispiel: Man hat eine Braillezeile für 32.000 Mark verkauft, die in der Fertigung 8.000 Mark kostete und konnte dafür zwei 40stellige Braillezeilen günstig abgeben, war natürlich eine Win-Win-Situation. Auch darf man nicht vergessen, dass die Entwicklungen der integrierten Screenreader von Apple, Google und Microsoft so nebenbei aus der Portokasse finanziert werden. Da sitzen ein paar Hansels, die quasi als Schlusslicht irgendwie die Accessibility einbauen und testen müssen. Geht man davon aus, dass alle Hersteller von Reha-Software nicht mehr existieren würden und die Branchengrößen sich aufgrund einer Trendwende gegen Accessibility entscheiden würden, könnte das auch ein absolutes Chaos bedeuten. Eher unrealistisch, aber nicht undenkbar.

      27. Januar 2018
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  2. Marc Hoffmann said:

    Kann man Cobra überhaubt noch downloaden? Cobra finde ich nicht nur zum arbeiten besser, sondern auch zum rumspielen als NVDA, Jaws usw.

    1. Dezember 2018
    Reply
    • Stephan said:

      Nein, das Thema Cobra hat sich erledigt.

      1. Dezember 2018
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  3. Dennis said:

    Tja, wenn man heute bedenkt, dass es Jaws 23 gibt und alles auf die Cloud zu geht, sind Hilfsmittelhersteller immernoch nicht auf der höhe der Zeit. Bestes Beispiel:
    Der neue Human Victor Reader Stream 3, hat noch immer keine Mainstream APIS wie Spotify, Dropbox oder Audible / YouTube. Ganz ehrlich, unsere Zukunft besteht nicht aus Daisybüchern, sondern aus Mainstream Produkten. Warum macht man nicht mal was ordentliches draus, wenn sich beide Branchen wohl nicht einigen können oder es noch nie versucht haben, Gründet irgendeiner bitte mal ein Startup, bringt ein Android-Handy raus bei dem nicht nur die Kamera sondern auch mal der Lautsprecher und das Mikrofon beworben werden, dann ist doch alles gut! Bis vor kurzer Zeit hat Apple ja auch noch sehr auf seine Accessibility geachtet, doch wenn ich jetzt mal schaue, welche Apps noch vollkommen barrierefrei sind… Da graust es mich!

    2. März 2023
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    • Stephan Merk said:

      Hier wird jetzt einiges durcheinandergewürfelt, also der Reihe nach.

      1. Screenreader: Die Tage der speziellen Anwendungen sind gezählt, hier müssen wir dahin kommen, dass Betriebssysteme zugänglicher werden und dies immer besser. Apple ist problematisch, bei Windows sehen wir aber Fortschritte. Wenn ein neuer Rechner mit angeschlossener Braillezeile eingerichtet wird, läuft diese automatisch mit. Das aktuelle Problem ist, dass jedes Betriebssystem eigens bedient werden muss, es also selbst von den ganzen Tastaturbedienungen nur rudimentäre Standards gibt. Aber es tut sich was, Chromebooks sind from scratch bedienbar, Windows 10 und 11 können quasi ab dem Booten inklusive Partitionierung und Formatierung blind eingerichtet werden.

      2. Hardware: Braillezeilen, -Drucker, Lesegeräte und so weiter werden stets von speziellen Unternehmen hergestellt werden müssen, einheitliche Schnittstellen werden wohl hier die Zukunft sein, HID-Braille beispielsweise. Spezialgeräte, wie Organizer, werden vermutlich künftig durch Standardsysteme ersetzt werden müssen.

      3. Spezialgeräte: Warum hat so ein Viktor kein Spotify mit an Bord? Weil das alles Geld kostet, Lizenzgebühren, nicht jeder Dienst hat eine offene API, am Ende müssen die verkauften Stückzahlen alle Kosten von Entwicklung über Fertigung und Vertrieb abgedeckt werden. Bei Smartphones ist das einfach, Google liefert die Basis, da können Hersteller drauf. Bei Humanware altern die Geräte schneller, als dass es Updates gibt, für die natürlich die Kunden auch nicht zahlen wollen. Mit dem Matapo BlindShell hätten wir ein Blinden-Smartphone, aber auch die kriegen das nicht hin. Ein Start-Up müsste mit sechsstelligen Geräteverkäufen rechnen, unter 100.000 Einheiten wird man kaum in die Gewinnzone kommen. Start-Up ist immer nett gesagt, weil ein trendiges Wort, aber auch hier spielt Know-How und vor Allem Geld eine wesentliche Rolle.

      Das wäre auch ein Widerspruch zur Kernaussage: Wir müssen da hinkommen, das wir mit Mainstream-Geräten Mainstream-Dienste nutzen können. Das sage ich seit 20 Jahren, setzt allerdings voraus, dass Mainstream-Dienste überhaupt ein Interesse daran haben, blinde Kunden zu bedienen. Spotify wäre auch ein gutes Negativbeispiel, wie man eine App mit guter Tastatursteuerung systematisch verschlimmbessern und überladen kann. Wenn schon vor 35 Jahren der ISCB e.V. als Interessensgemeinschaft am Ball geblieben wäre und ein Statement gesetzt hätte, würden wir auch heute eine Interessengemeinschaft haben, die auch gegenüber den Diensteanbietern und Herstellern ein Gegengewicht bieten könnte, aber das ist leider nicht der Fall.

      2. März 2023
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