Bewusstes Offline gehen aus Überzeugung

Letzte Aktualisierung am 12. August 2018

Das jährliche Stadtfest „3 Tage Marburg“ ist zu Ende. Währe ich wohl ein typischer Social-User, wären meine Profile bestimmt schon voll mit Fotos. Wie üblich nehme ich unterwegs kein iPhone mit und verlasse mich auf meine Apple Watch Series 3 GPS + Cellular, alleine aber geht das nicht, weil mir hier die Fahrplanauskunft fehlt. Heute aber hatte ich kein Bock auf die Watch, auf Apple sowieso täglich immer weniger. Ich griff somit zur bewährten, vor Allem deutlich robusteren Citizen Solar-Uhr und so begaben wir uns, sozial unerreichbar, nach Marburg. Unerreicht war dann auch mein Erlebnis.

Die Apple Watch Series 3 GPS + Cellular als reduziertes Smartphone

Zunächst muss ich allerdings meine Watch etwas in Schutz nehmen, denn der Vergleich mit Smartphone wäre schon ungerecht. Sie hat keine Kamera, verschickt nur iMessages und SMS, auch kein WhatsApp. Als Entertainment bietet sie in Verbindung mit den AirPods Zugang zu Apple Music, Beats 1 Radio und ausgesuchten Diensten, wobei Siri auch schnell an ihre Grenzen stößt und zum iPhone-Griff auffordert. Ist dies außer Reichweite, bleibt man reduziert. Für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen ist die Apple Watch trotzdem ein Segen, verbindet sie, ausgehend von der LTE-Version, eine sprechende Uhr, Infotainment-Zentrale und Notfallsystem, spielt Musik auf Zuruf über die AirPods ab und eignet sich sehr gut als Telefon für kurze Anrufe. Kurz um, alles was man unterwegs braucht, wäre da nicht die nicht vorhandene und bereits erwähnte Fahrplanauskunft. Apple hat die ÖPNV-Verbindungen in Deutschland immer noch nicht flächendeckend implementiert und so ist das iPhone in petto schon ein Joker. Google Karten und andere Dienste stehen nicht zur Verfügung.

Apropos Google, inzwischen kann auch die Google Watch mit TalkBack genutzt werden. Google Wear 2.0 macht’s möglich, habe ich aber nicht ausprobiert. Grundsätzlich sind Lautsprecher und Mikrofon dazu erforderlich, somit muss man bei der Auswahl darauf achten. Huawei hat eine solche in Angebot, Samsung setzt bei den hauseigenen Uhren auf Tizen. Ob dieses Betriebssystem abseits von Fernsehgeräten über eine Sprachausgabe verfügt, ist mir nicht bekannt. Nach meiner Einschätzung ist aber die Apple Watch von ihrer Entwicklung her weit vorne, zumal die Pendants mit Google Wear auch nicht günstiger zu haben sind. Der einzige Wehrmutstropfen ist, dass die Entwickler die Chance der komplett drahtlosen Version irgendwie nicht nutzen, obwohl sie sich, zumindest laut Apple – wie immer, glänzend verkaufen soll.

Achtsamkeit statt Ablenkung

Auch wenn man trotz sozialer Abhängigkeit vor Allem in diesen Medien immer was von Achtsamkeit und Selbstfindung liest, hat mir der heutige Tag gezeigt, das klappt mit dem teuersten Smartphone nicht. Denn das, was ich heute erlebt habe, war ein intensiver Aufenthalt im Leben, ohne Ablenkung, ohne Störung und vor Allem mit dem Bewusstsein, dass der zu genießende Moment nie wieder kommen wird und ausschließlich in meinem Kopf und derer anwesender Besucher gespeichert bleibt. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal technikfrei meine Basis verlassen habe, das muss schon sehr lange her gewesen sein. Mit Watch und ohne AirPods bin ich dies eigentlich immer häufiger, was auch ein sehr entspanntes Unterwegs ist.

Mir hat der heutige Tag jedenfalls sehr bewusst gemacht, dass die größten Probleme in unserer Gesellschaft nicht durch die Zuwanderung und seltsamen Gebaren von Politikern bestimmt werden. Es ist viel mehr die hausgemachte Abhängigkeit von sozialen Medien und Diensten, die vermeidbare Möglichkeit, etwas verpassen zu können und vor Allem auch die ausbleibende Chance, den Moment spontan mit Menschen zu teilen. Ohne Smartphone begibt man sich heute in eine progressive Unabhängigkeit, wird autonom und lässt sich nicht fernsteuern, wird auch nicht gefunden und doch trifft man Menschen, die man kennt. Vielleicht hätte man diese mit einem Smartphone vor der Nase gar nicht mal bemerkt.

Für mich ist klar, dass wir dringend aufhören müssen, jeden Tag unser Leben in Snaps und Instas zu bannen, öffentlich Tagebuch zu führen und im Wettstreit mit den Freunden unsere Erlebnisse um die Wette zu posten. Wir sollten mehr zu uns selbst finden, vielleicht mit Smartphone, aber im Lautlos-Modus. Ich kann mir vorstellen, dass die nächsten Generationen das Internet total oldschool finden könnten und man auf – vielleicht heißen sie „Fuzzy-Spots“ – fremden Menschen ganz zufällig begegnet, um diese kennen zu lernen. Vielleicht eine Art Offline-Dating, wer weiß. Planbarkeit ist jedenfalls langweilig, pausenlos Fotos gucken aber auch. Derzeit müssen wir uns damit abfinden, dass die weltweite Internet-Industrie erfolgreich viele Menschen latent hat süchtig werden lassen, die man zudem mit gezielter Werbung manipuliert.

Vernetzter Wald

Als ich oben im Marburger Schlosspark die Bäume habe stehen sehen und die davon ausgehende Ruhe mit dem leichten Wind in den Ästen, fragte ich mich, was sich diese wohl über uns Menschen erzählen. Dabei fiel mir ein, dass diese ja auch irgendwie vernetzt sind. Bäume kommunizieren über ein ausgeklügeltes Wurzelsystem im Boden, mit dem sie sich sogar über weite Strecken hinweg vor Gefahren warnen können. Verglichen mit unserer Gesellschaft konnte man das allerdings mit dem Handy auch schon. SMS oder kurzer Anruf genügte und das ging auch sehr lange ohne Foto und Video. Vor Allem haben diese Mitteilungen das Land nicht verlassen und wurden nicht von Dritten ausgewertet.

Kurios ist auch, dass man seit der Jahrtausendwende bereits im asiatischen CDMA-Netz per Videotelefonie kommunizieren konnte. Bevor WhatsApp überhaupt spruchreif war, gab es diese Dienste auch. Bildtelefone über das ISDN-Netz, selbst Handys ohne smartes Betriebssystem mit Frontkameras, waren verfügbar. Trotzdem haben die Menschen dies nicht angenommen. Erst mit Skype wurde die Videotelefonie massenkompatibel und in Verbindung mit der Einfachheit des Smartphones gesellschaftsfähig. Viel Speicherplatz bei den Diensten ermöglichte die Instant-Videos, die sogar binnen Sekunden wieder gelöscht werden können. Das Meiste aber wird dauerhaft auf Videoplattformen gespeichert und ist nicht einmal relevant für den Großteil der Zuschauer.

Bleiben wir aber bei den Bäumen und deren Vernetzung. Wenn ich überlege, dass Tiere und Pflanzen über Jahrhunderte mit kleinen Abweichungen in ihrer Gattung existieren, ist die Frage berechtigt, ob die geistige Überlegenheit der Menschen tatsächlich zur Zufriedenheit führen soll. Alles, was wir haben, wurde irgendwann erschaffen. Vieles davon ist eine riesige Erleichterung. Als das Telefon erfunden wurde, haben es ältere Menschen als Teufelszeug betrachtet, die lieber zum Nachbarn gehen. Heute überwinden wir mit der Kommunikation alle örtlichen Grenzen in Echtzeit und so entwickeln sich Beziehungen, die selbst zu Zeiten des Telefons alleine aus Kostengründen kaum möglich wären. Wie sollte man auch jemanden kennen lernen, einfach eine Telefonnummer per Zufall eingeben? – Man sollte daher meinen Artikel keinesfalls als Verteufelung neuzeitlicher Technologien bewerten, im Gegenteil. Die Möglichkeiten, die wir heute haben, sind spektakulär und ein riesiger Beitrag zur Inklusion. Dennoch aber ist eine Dosierung sinnvoll und man sollte sich schon überlegen, wann man erreichbar sein will und ob man nicht durch ständiges Knipsen manche Momente nicht entwertet. Während es von mir als Kleinkind nur Videos auf tonlosen Filmbändern im Super-8-Format gab, die inzwischen auch im digitalen Zeitalter angekommen sind, wird ein heutiges Kind in den meisten Fällen seine Kindheit irgendwo auf YouTube oder Facebook finden. Ob das wirklich gut ist, darüber sollte man einmal ganz in Ruhe nachdenken. Vielleicht in einem Wald unter vielen Bäumen.

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