BAUM Retec AG, das Ende einer Traditionsmarke

Letzte Aktualisierung am 26. März 2020

Schon lange prognostiziere ich den Zusammenbruch der Hilfsmittelbranche, jetzt hat es den ersten aus Deutschland getroffen. Die BAUM Retec AG, umgangssprachlich als Baum bezeichnet, geht in die Geschichte als einer der wenigen Entwickler von Blindenhilfsmitteln ein, der als Vollsortimenter alle Bereiche abgedeckt hat. Im Jahr 1980 gründete Wolfgang Baum ein Ingenieurbüro undimportierte Blindenhilfsmittel für den privaten und beruflichen Alltag vorwiegend aus den USA. Später erfolgte die eigene Entwicklung. von Braillezeilen, Lesegeräte und sogar Screenreader. Vario, Visio und Virgo sind einige bekannte Produktlinien des Unternehmens. Gute Internationale Verbindungen, beispielsweise mit Humanware, für die man Braillezeilen produzierte, Telesensory (TSI) und Xerox Imaging sorgten für ein breites Angebot an Produkten. Im Jahr 2003 wurde der Mitbewerber Frank Audiodata übernommen, der aufgrund einer komplett gegensätzlichen Philosophie nicht zum eigenen Produktportfolio passte. Während Baum bei Virgo alle Bedienfunktionen über die PC-Tastatur abgedeckt hat, setzte Frank Audiodata auf ein hermetisch getrenntes Bedienkonzept für den Audiodata-Screenreader Blindows. Nachdem alle deutschen Software-Entwicklungen gegen die amerikanische Konkurrenz weichen musste, blieb Cobra bis zuletzt am Markt übrig. Die Qualität ist sehr umstritten, denn auch wenn Baum-Kunden überwiegend zufrieden waren, setzten Technikraten bewusst nicht auf Cobra. Aufgrund der hoch flexiblen Anpassbarkeit konnte sich Cobra allerdings im geschäftlichen Umfeld gut behaupten.

Übernahme mit Tücken

Die Verheißungen im ersten Newsletter nach der Übernahme von Audiodata durch Baum ließen Großes vermelden, man würde beide Kräfte vereinen und das beste Produkt schaffen. Nur wurden diese Zeilen ohne die Absprache der beiden Entwickler-Teams geschrieben, die sich nicht ganz über diese Fusionierung einig waren. Am Ende siegte Virgo, Blindows wurde abverkauft und auch die innovativen Bedienkonzepte von Audiodata verloren mehr und mehr an Bedeutung. Schlussendlich blieb nichts mehr davon übrig, außer die ehemaligen Mitarbeiter. Auch den Produkten Pronto 40, einem blindengerechten Organizer, und einigen Braillezeilen aus der Vario-Familie sieht man die Abstammung von Audiodata noch an.

Gerüchte über Gerüchte

Als Branchenkenner hat man die Aussage, Baum sei insolvent, schon mehrfach gehört. Doch gab es nie Bestätigungen dafür, außer gelegentliches Jammern einiger Unternehmenssprecher über die schwierige Marktsituation. Darin sah ich bislang nur Taktik, doch scheint mehr dran gewesen zu sein, denn im Sommer 2017 wurde die ordentliche Insolvenz offiziell. Am 5. Januar 2018 waren Support und Webseite nicht erreichbar. Dennoch gab es im Verlauf der Firmengeschichte einige seltsame Gerüchte und auch Aussagen aus erster Hand, die ich erfuhr. Jüngstes Beispiel ist ein blinder Mitarbeiter, der von einen Tag auf den anderen vor Ablauf der Probezeit mit fadenscheinigen Gründen entlassen wurde. Auch sind mir Mitarbeiter bekannt, die über ausbleibende Gehaltszahlungen und seltsame Abfindungen über die letzten Jahre berichteten. Schlussendlich entstanden neue, kleine Unternehmen im Hilfsmittelbereich, deren Geschäftsinhaber ehemalige Baum-Mitarbeiter gewesen sind. Auch dem plötzlichen Umzug vom Firmensitz im Heidelberger Schloss Langenzell soll eine Räumungsklage voraus geeilt sein, dies ist allerdings auch schon über 10 Jahre her und wurde mir von verschiedenen Stellen zugetragen. Sicher muss man solche Informationen stets kritisch und von mehreren Seiten bewerten, denn was wirklich an diesen Aussagen dran ist, weiß ich nicht. Fakt ist aber, dass Baum über einige Großkunden verfügt hat, deren Serviceverträge sicherlich das Fortbestehen sichern konnten.

Kein Verlust für die Branche

Es ist sicher nicht übertrieben, dass Baum bei mir wenig Sympathie hervorrief und dies aus mehreren Gründen. In einem Screenreader-Test, den ich 2004 durchgeführt habe, viel Virgo glatt durch, da es ungefragte Änderungen an meinem System durchführte, die zudem nicht dokumentiert waren. Die Vergrößerung ruckelte und das war auch später bei Cobra noch der Fall und dauerte Jahre, bis man dies in den Griff bekam. An einem mir bekannten Arbeitsplatz wurde daher auf die Windows-Bildschirmlupe umgestellt, mit der ein flüssigeres Arbeiten möglich war. Der Organizer Pronto, der sich auch heute noch großer Beliebtheit erfreut, basiert auf veralteter Windows CE-Technologie und einem Xscale-Prozessor mit 266 MHz, die Technik ist um 15 Jahre alt. Andere Hersteller bieten aktuelle Produkte mit Android zum gleichen Preis. Mir lag ein Pronto in diesem Jahr vor, der neu gekauft wurde, Zwar klappte die Verbindung über Wi-Fi problemlos, die Reaktionszeit war allerdings unterdurchschnittlich. Auch wenn das Design der Braillezeilen im Vergleich modern wirkt, sind auch diese nicht frei von Mängeln. So ist die Wartung schwierig und man versucht, den Kunden auch nachhaltig an sich zu binden. Das versuchte man auch im Vorfeld, bei einem meiner Kunden suchte Baum ohne Absprache mit diesem den Sachbearbeiter auf und forcierte die Übernahme der Hilfsmittel von Baum. Ein Gebaren, das für ein seriöses Unternehmen nicht tragbar ist.

Fazit

Seitdem große Betriebssystemhersteller eigene Screenreader integrieren, die mehr als brauchbar sind und auch die Open-Source-Community nicht still steht, hat sich der Markt verändert. Das haben offenbar viele noch nicht begriffen und setzen auf die Tradition des Vollsortiments und eigene Produkte, Schulungen und Service. Doch ist der heutige blinde Mensch, der ins Berufsleben einsteigt, bereits ausreichend ausgebildet und kann die Qualität von Produkten durchaus bewerten. Das war vor 20 Jahren noch anders, damals war der Computer noch nicht allgegenwärtig. Wenn aber ein Hersteller wie Baum im Newsletter verkündet, dass Cobra endlich Office 2010 unterstützt, während Office 2013 lange auf dem Markt ist, kann von einem wettbewerbsfähigen Produkt wohl kaum die Rede sein. Ich bin davon überzeugt, dass dies nur der Anfang ist. Wenn die anderen deutschen Hersteller nicht unmittelbar und radikal ihre Strukturen ändern, kann es noch mehrere treffen. Der Umbau von Handy-Tech in Help Tech spricht dabei ebenfalls für sich. Vielleicht findet sich aber ein Investor und Baum kann in Teilen weiter bestehen. Dann aber hoffentlich mit einer bodenständigen Unternehmensphilosophie.

6 Comments

  1. Adriani Botez said:

    Sehr gute Einschätzung. Mir war diese Entwicklung schon vor Jahren klar, als Mitarbeiter von Gaudiobraille versuchten die Software iRead als vollwertige Scansoftware zu verkaufen. Als ich ein Blatt mit einer Tabelle eingescant habe und gefragt habe, ob man das Dokument in HTML oder XLS konvertieren könne, war erstmal Unsicherheit zu spüren. Dann hieß es, nein das geht nicht. Die Tabelle war in iRead als solche überhaupt nicht lesbar. Noch klarer wurde es mir, als Papenmeier mein Arbeitsplatz getestet hatte und mir für ein Fadclient eine Jaws-Version für Terminal-Server verkaufen wollte. Dann noch eine Erweiterung für SAP, die es im SAP Market Place schon kostenlos gibt. Professionalität ist anders. Ich hoffe, dass es irgendwann innovative Startups für Hilfsmittel gibt. Startups, die mit Mittelständischen oder gar multinationalen Mainstream-Unternehmen zusammenarbeiten. Denn so können wertvolle Joint-Ventures entstehen und jeder kann davon profitieren. Vor allem wären damit die Hilfsmittel auch auf andere Technologien abgestimmt.

    27. Januar 2018
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    • Stephan said:

      Ja, das ist aus heutiger Sicht denke ich richtig. Aber man darf das Jetzt nicht mit dem Damals verwechseln, als Entwicklungen richtig teuer waren. Die ersten Hardware-Lösungen waren in der Produktion so aufwendig, dass ein Wechsel von ISA auf VESA ausreichte, dass die alten Dinger nicht mehr liefen. Mit anderen Worten wurde der Kram entsorgt und die Hersteller haben über kurze Zeit Notlösungen für grafische Benutzeroberflächen entwickeln müssen. Ganz ehrlich, das unternehmerische Risiko hätte ich nicht tragen wollen, die Pionierarbeiter waren damals sehr mutig. Nur als das Kalb großgezogen war, wurde die Kuh gemolken, bis heute. Man überlege sich, wie lange JAWS eigentlich zwischen Home und Pro unterschied, obwohl manch Anwender zufällig das „falsche“ Notebook mit einem Pro-Windows kaufte, das im Gegensatz zu Windows 98 vs. Windows NT technisch nicht mal mehr zwei Entwicklungsstränge einforderte. Ich weiß aus erster Hand, dass einige Firmen damals auch hohe Preise genommen haben, um zugleich ihre Produkte in Berufsbildungswerken zu finanzieren. Rechenbeispiel: Man hat eine Braillezeile für 32.000 Mark verkauft, die in der Fertigung 8.000 Mark kostete und konnte dafür zwei 40stellige Braillezeilen günstig abgeben, war natürlich eine Win-Win-Situation. Auch darf man nicht vergessen, dass die Entwicklungen der integrierten Screenreader von Apple, Google und Microsoft so nebenbei aus der Portokasse finanziert werden. Da sitzen ein paar Hansels, die quasi als Schlusslicht irgendwie die Accessibility einbauen und testen müssen. Geht man davon aus, dass alle Hersteller von Reha-Software nicht mehr existieren würden und die Branchengrößen sich aufgrund einer Trendwende gegen Accessibility entscheiden würden, könnte das auch ein absolutes Chaos bedeuten. Eher unrealistisch, aber nicht undenkbar.

      27. Januar 2018
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  2. Marc Hoffmann said:

    Kann man Cobra überhaubt noch downloaden? Cobra finde ich nicht nur zum arbeiten besser, sondern auch zum rumspielen als NVDA, Jaws usw.

    1. Dezember 2018
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    • Stephan said:

      Nein, das Thema Cobra hat sich erledigt.

      1. Dezember 2018
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  3. Dennis said:

    Tja, wenn man heute bedenkt, dass es Jaws 23 gibt und alles auf die Cloud zu geht, sind Hilfsmittelhersteller immernoch nicht auf der höhe der Zeit. Bestes Beispiel:
    Der neue Human Victor Reader Stream 3, hat noch immer keine Mainstream APIS wie Spotify, Dropbox oder Audible / YouTube. Ganz ehrlich, unsere Zukunft besteht nicht aus Daisybüchern, sondern aus Mainstream Produkten. Warum macht man nicht mal was ordentliches draus, wenn sich beide Branchen wohl nicht einigen können oder es noch nie versucht haben, Gründet irgendeiner bitte mal ein Startup, bringt ein Android-Handy raus bei dem nicht nur die Kamera sondern auch mal der Lautsprecher und das Mikrofon beworben werden, dann ist doch alles gut! Bis vor kurzer Zeit hat Apple ja auch noch sehr auf seine Accessibility geachtet, doch wenn ich jetzt mal schaue, welche Apps noch vollkommen barrierefrei sind… Da graust es mich!

    2. März 2023
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    • Stephan Merk said:

      Hier wird jetzt einiges durcheinandergewürfelt, also der Reihe nach.

      1. Screenreader: Die Tage der speziellen Anwendungen sind gezählt, hier müssen wir dahin kommen, dass Betriebssysteme zugänglicher werden und dies immer besser. Apple ist problematisch, bei Windows sehen wir aber Fortschritte. Wenn ein neuer Rechner mit angeschlossener Braillezeile eingerichtet wird, läuft diese automatisch mit. Das aktuelle Problem ist, dass jedes Betriebssystem eigens bedient werden muss, es also selbst von den ganzen Tastaturbedienungen nur rudimentäre Standards gibt. Aber es tut sich was, Chromebooks sind from scratch bedienbar, Windows 10 und 11 können quasi ab dem Booten inklusive Partitionierung und Formatierung blind eingerichtet werden.

      2. Hardware: Braillezeilen, -Drucker, Lesegeräte und so weiter werden stets von speziellen Unternehmen hergestellt werden müssen, einheitliche Schnittstellen werden wohl hier die Zukunft sein, HID-Braille beispielsweise. Spezialgeräte, wie Organizer, werden vermutlich künftig durch Standardsysteme ersetzt werden müssen.

      3. Spezialgeräte: Warum hat so ein Viktor kein Spotify mit an Bord? Weil das alles Geld kostet, Lizenzgebühren, nicht jeder Dienst hat eine offene API, am Ende müssen die verkauften Stückzahlen alle Kosten von Entwicklung über Fertigung und Vertrieb abgedeckt werden. Bei Smartphones ist das einfach, Google liefert die Basis, da können Hersteller drauf. Bei Humanware altern die Geräte schneller, als dass es Updates gibt, für die natürlich die Kunden auch nicht zahlen wollen. Mit dem Matapo BlindShell hätten wir ein Blinden-Smartphone, aber auch die kriegen das nicht hin. Ein Start-Up müsste mit sechsstelligen Geräteverkäufen rechnen, unter 100.000 Einheiten wird man kaum in die Gewinnzone kommen. Start-Up ist immer nett gesagt, weil ein trendiges Wort, aber auch hier spielt Know-How und vor Allem Geld eine wesentliche Rolle.

      Das wäre auch ein Widerspruch zur Kernaussage: Wir müssen da hinkommen, das wir mit Mainstream-Geräten Mainstream-Dienste nutzen können. Das sage ich seit 20 Jahren, setzt allerdings voraus, dass Mainstream-Dienste überhaupt ein Interesse daran haben, blinde Kunden zu bedienen. Spotify wäre auch ein gutes Negativbeispiel, wie man eine App mit guter Tastatursteuerung systematisch verschlimmbessern und überladen kann. Wenn schon vor 35 Jahren der ISCB e.V. als Interessensgemeinschaft am Ball geblieben wäre und ein Statement gesetzt hätte, würden wir auch heute eine Interessengemeinschaft haben, die auch gegenüber den Diensteanbietern und Herstellern ein Gegengewicht bieten könnte, aber das ist leider nicht der Fall.

      2. März 2023
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