Letzte Aktualisierung am 15. April 2018
Während früher optionale Screenreader notwendig waren, damit blinde Anwender einen Computer bedienen konnten, sind diese heutzutage in den Betriebssystemen ein fester Bestandteil oder als spendenfinanzierte Projekte kostenlos für Jedermann verfügbar. Grund genug, der Kritik an den vergleichsweise hohen Kosten für Screenreader auf den Grund zu gehen. In meiner Berufspraxis kommt es gelegentlich vor, dass ich blinde Kunden bediene, das hat auch manchmal persönliche Vorteile. Denn so konnte ich aktuell den bekannten Screenreader JAWS in der aktuellen Version 18 Home testen und es auf einem neuen System mit schneller Hardware dem kostenlosen bzw. spendenfinanzierten NVDA gegenüberstellen. Vorausschicken muss ich allerdings, dass in meiner Berufspraxis JAWS nie Thema war. Ich arbeitete stets für Unternehmen, die gerade kein JAWS im Portfolio haben durften und auf andere Hersteller wie Dolphin oder GW-Micro setzten, JAWS war der „böse Konkurrent“ und dennoch bei der Masse beliebt.
Wozu braucht man einen Screenreader?
Die Aufgabe eines Screenreaders besteht nicht nur darin, den Text eines Computerbildes und die zugehörigen Elemente in strukturierter Weise per Sprachausgabe vorzulesen, es ist auch die optionale Textausgabe auf einer Braillezeile möglich. Mit deren Hilfe kann der Anwender nicht nur den Text in Blindenschrift lesen, sondern je nach Gerät auch den Computer sogar tastaturlos bedienen. Während sich bei der reinen Sprachausgabennutzung die Screenreader heutzutage relativ gering voneinander unterscheiden, gibt es bei der Brailledarstellung geschätzte Unterschiede, so dass manche Anwender bestimmte Screenreader bevorzugen. Gerade NVDA fällt in diesem Punkt etwas zurück, weil sich die Brailledarstellung zu sehr an der Sprachausgabe orientiert. Einen strukturierten Flächenmodus, der das Computerbild taktil in verkleinerter Weise tastbar macht, ist derzeit nur den hochpreisigen Produkten vorbehalten. Am Mac sieht das etwas anders aus, da hier die unterschiedliche Struktur durch die hierarchische Darstellung keine Oberflächenanalyse per Braillezeile erfordert. Überhaupt kann man sich streiten, ob diese Darstellungsform heutzutage zwingend notwendig ist. Da viele ihre Braillezeile hauptsächlich in der Textverarbeitung und für Office-Aufgaben nutzen, ist eine Inhaltsdarstellung für die meisten Anwender ausreichend.
Einen weiteren großen Unterschied gibt es bei der Anpassbarkeit spezieller Software. Hier setzen die teuren Produkte auf mächtige Skripting-Werkzeuge, die auch das Auslesen komplexer Anwendungen ermöglichen. Das ist besonders am Arbeitsplatz eine Herausforderung, wenn beispielsweise der blinde Anwender auf spezielle Funktionen einer Telefonzentrale oder eines unternehmensspezifischen Programms zugreifen muss. Mit speziellen Makros, Tastaturkurzbefehlen und einer aufwendig strukturierten Darstellung der Informationen ist eine anwenderorientierte Anpassung möglich. Hingegen werden Standardprogramme, wie Microsoft Office, OpenOffice oder Internet-Browser, von allen Produkten mehr oder weniger gut unterstützt.
Kostenlos vs. Kostenpflichtig
NV-Access stellt der gesamten Welt den NVDA Screenreader kostenfrei zur Verfügung. Die Motivation hinter dem Projekt von NV-Access ist, jedem blinden Menschen, eben auch in Entwicklungs und Schwellenländern, den Windows-Zugang zu ermöglichen. Eine durch Spenden finanzierte Community pflegt und entwickelt NVDA. Wie bei vielen dieser Projekte sind das in Wesentlichen Menschen, die gerne programmieren, ihr Geld aber anderweitig verdienen. Beispielsweise mit Schulungs- und Serviceangeboten, so dass man zwar die Software erhält und eine brauchbare Dokumentation, nicht aber das Wissen, damit umzugehen. Das eignet man sich selbst an oder bemüht externe Helfer. Bleiben Spenden aus, können solche Projekte auch schneller beendet sein, als einem das lieb wäre. Daher sollte jeder Anwender wenige Euro pro Jahr spenden, um dieses Risiko zu minimieren. Konkret war das Projekt schon mehrfach aufgrund zu geringer finanzieller Zuwendungen gefährdet.
JAWS von Freedom Scientific, jetzt VFO, kostet je nach Version um 2.000 bis 3.000 Euro, also in Etwa so viel, wie ein besser ausgestattetes MacBook. Rechnet man die Kosten für ein gewöhnliches Notebook von rund 800 Euro mit ein, hätte man knapp die Top-Ausstattung eines aktuellen MacBook Pro 13 mit TouchBar erreicht, das bereits ab Werk mit VoiceOver ausgestattet ist. Aber auch Microsoft Narrator in Windows 10 bietet inzwischen im Bereich der Windows-Anwendungen eine so gute Zugänglichkeit, dass man jeden Windows-Computer auspacken, einschalten und direkt mit der Sprachausgabe einrichten kann. Nachdem der Narrator seit Jahren vor sich hin dümpelte, hat die aktuelle Version einige Verbesserungen erfahren. Auch Braillezeilen werden sogar nativ mit BrlTTY unterstützt. Allerdings sollte man auch die Profitorientierung der kapitalistisch ausgerichteten Großkonzerne nicht unterschätzen, so ist Barrierefreiheit zumindest heute ein guter Werbeträger: „Wir tun was für die Gesellschaft“, das kann aber schon übermorgen anders sein. NV-Access hingegen ist unabhängig und so wäre es nicht undenkbar, dass man auch für andere Betriebssysteme eine Lösung finden könnte. Gleiches trifft auch auf die Software-Anbieter von Screenreader zu, die sich jedoch bislang ausschließlich auf Windows fixieren.
Während Windows und macOS sehr gut zugänglich sind, verhält sich das mit Linux etwas anders. Hier treffen sich Fluch und Segen: Klaus Knopper leistet mit dem ebenfalls kostenlosen ADRIANE im Linux-Betriebssystem Knoppix einerseits Großartiges, auch Ubuntu lässt sich per Sprachausgabe von Anfang an installieren und nutzen. Andererseits wollen vor Allem blinde Anwender nicht abgehängt sein und weder die textbasierte Oberfläche von ADRIANE nutzen, noch lässt sich mit dem Linux-Screenreader Orca vor Allem aufgrund seiner quasi nicht vorhandenen Hilfestellung vernünftig mit der grafischen Linux-Oberfläche arbeiten. Unter dem Strich bleiben somit auch heute nur Windows und macOS als ernstzunehmende Produktiv-Umgebungen für den Mainstream übrig, im Zeitalter der Inklusion sind vom Standard abweichende Lösungen einfach nicht mehr zeitgemäß. Gerade die Werbeaussage zum ADRIANE-System, grafische Benutzeroberflächen seien viel zu kompliziert in der Bedienung und Blindenhilfsmittel überteuert, entsprechen längst nicht mehr der Realität. Dafür spricht für ADRIANE eine werkseitig integrierte Texterkennung, die auch auf moderne Multifunktionsgeräte zugreift, ein ausgefeilter Dateimanager und die Reduktion auf bestimmte Anwendungen.
Der Markt im Wandel
Trotz der Tatsache, dass Screenreader, wie JAWS und Supernova, relativ teuer sind, muss kein blinder Anwender diese aus eigener Tasche mit seinem Blindengeld bezahlen. In unserer luxusverwöhnten Gesellschaft fehlt es aktuell vielleicht noch an der breiten Information der Träger, so dass auch heute noch die Kosten für JAWS uneingeschränkt übernommen werden. Doch in Schwellenländern ist das nicht so einfach und hier kann eine flächendeckende Bildung nur realisiert werden, indem nichtkommerzielle Projekte oder direkt die Betriebssystemhersteller darauf bedacht sind, dass jeder mit einer welch auch immer gearteten Einschränkung ihre Produkte bedienen kann. Genau genommen hat sich die Zugänglichkeit inzwischen längst als Gemeingut etabliert, für kommerzielle Anbieter ist daher die ehemalige Marktposition schwierig zu halten. Und so arbeite auch ich nur noch mit kostenlosen Programmen, für die ich hin und wieder lieber etwas spende, als im Vorhinein so viel Geld für einen Windows-Screenreader auszugeben. Dass sich damit genauso arbeiten lässt, zeigt längst die Praxis.
Bei mir persönlich haben die Anbieter kommerzieller Screenreader ihren Ruf teilweise verspielt. So war es früher stets üblich, dass man nach einem Update des Internet Explorers oder eines ServicePacks, rein zufällig erst dann kostenpflichtige Updates heraus gebracht hat, ohne die eine weitere Nutzung des Computers unmöglich wurde. Besonders Dolphin Access Ltd. (Supernova) ist hier ein Negativbeispiel, das Upgrade auf Version 8 erschien zeitgleich mit dem neuen Internet Explorer. Ich fand allerdings heraus, dass auch die neuen Skripte der Demo-Version in der älteren Version 7 lauffähig waren und somit auch ohne Upgrade eine Nutzung des neuen Internet Explorers gelang. Dass künftige Entwicklungen finanzierbar bleiben müssen, ist klar. Nur kann der Endverbraucher manche Updates nicht steuern und so ist es perfide, wenn gerade die benötigte Zugangslösung plötzlich ohne geldlichen Einsatz nicht mehr zuverlässig arbeitet. Gerade Menschen, die finanziell schlechter gestellt sind, haben das Nachsehen, denn bei Upgrades stehen die Leistungserbringer nicht zwingend in der Pflicht, diese auch zu bezahlen. Eine Lösung könnte sein, Privatanwender generell von Update-Kosten auszunehmen, aber daran denken die Wenigsten Hersteller. In der Praxis kenne ich viele, die dann zur Vermeidung von Update-Kosten irgendwann einfach zu NVDA übergelaufen sind. Immerhin unterscheidet man heute nicht mehr zwischen den Windows-Versionen Home und Professional. Für letztere mussten Anwender alleine deshalb deutlich mehr für ihre JAWS-Version bezahlen, weil pauschal eine kommerzielle Nutzung vermutet wurde.
JAWS vs. NVDA
Ich selbst hatte JAWS in der Version 1.1 in Verwendung, bin dann nach Version 3.2 zu Dolphin Supernova gewechselt und habe in dieser Zeit regelmäßig Screenreader miteinander verglichen. Kurz vor Windows Vista wechselte ich zu ZoomText 9 von Al Squared und setzte schließlich auf NVDA und die Bildschirmlupe von Windows, eine effiziente und kostenneutrale Lösung. Window-Eyes von GW-Micro wurde eine Zeit lang über Microsoft kostenlos verteilt, bei einem Direktvergleich mit NVDA viel es deutlich ab. Nun konnte ich also das aktuelle JAWS 18 mit NVDA (Non Visual Desktop Access, Version 2017.2) gegenüberstellen und herausfinden, ob sich die Differenz von rund 2.000 Euro für mich lohnen würde.
Natürlich muss der hohe Preis von JAWS 18 irgendwo her kommen und das sieht man schon bei den integrierten Funktionen, die NVDA selbst mit Erweiterungen nicht in dieser Qualität anbietet. Eine Wörterbuchfunktion auf Tastendruck ist dabei noch die kleinere Übung. Auch lassen sich Fenster mit grafischem Inhalt und nicht durchsuchbare Textdokumente mit der integrierten Texterkennung OmniPage auf Knopfdruck erfassen und sogar anklicken. Dadurch ist es möglich, auch vollgrafische Anwendungsfenster zumindest über einem Umweg zu bedienen. Die Texterkennung verläuft zwar recht zügig, wenn die Hardware ausreichend schnell ist. Dennoch zieht sie Ressourcen und ist daher trotzdem nur eine Notlösung. Neu ist das Feature nicht, auch Cobra von Baum Retec AG als alternatives Produkt ,bietet solch eine Funktion. Erstmals erwähnt wurde diese Lösung allerdings schon Anfang der 90er Jahre von Dr. Karl-Heinz Weirich, der die Möglichkeit der optischen Zeichenerkennung beim IBM SR/2 (Screenreader für OS/2) als Ansatz zur Bedienung grafischer Benutzeroberflächen definierte. Allerdings stellte er damals auch fest, dass die Rechenleistung damals nicht für eine Echtzeiterkennung ausgereicht hätte, heute ist das natürlich alles anders.
Auch die im Lieferumfang befindlichen Sprachausgaben, deren Installation für den Laien schlecht dokumentiert und nur mit Englischkenntnissen möglich ist, decken alle Ansprüche ab. In der mir vorliegenden Version war Vocalizer Expressive Premium mit der Petra-Stimme beigelegt. Diese allerdings unterschreitet mit der Stimme von Gabriele Libbach klanglich leider die vom Mac bekannte Anna, die man sich erst umständlich runterladen muss. Bei der automatischen Installation geht man offenbar davon aus, dass der neuzeitliche Anwender immer noch auf die schnarrende Eloquence setzt. Das mag in vielen Fällen berechtigt sein, allerdings wäre eine Abfrage der gewünschten Sprachausgabe sicher kein Umstand gewesen. Überhaupt scheint sich die Installation seit gefühlten 15 Jahren nicht verändert zu haben. Schlussendlich läuft das System und mit einer Lupe ließ sich auch die Aktivierung durchführen. Eine Aktivierungs-DVD oder Punktschriftbeschriftung auf der CD soll es aktuell auch geben, war in meinem Fall allerdings nicht angebracht worden. Ob die zusätzlichen Stimmen bei der benutzerdefinierten Installation gewählt werden können, habe ich nicht getestet.
NVDA kann man, wie auch JAWS, aus dem Internet herunterladen. Die ausführbare Datei spricht nach dem Start und so ist eine Installation ebenfalls blind möglich. Die eSpeak als Sprachausgabe gewinnt sicher keine Klangrekorde, ist dafür aber kostenlos. Die noch heute beliebte Eloquence ist offiziell nicht nutzbar, die Vocalizer Expressive-Stimmen lassen sich allerdings optional erwerben. Für etwa 90 Euro bekommt man alle nur möglichen Stimmen, die man nach Bedarf herunterladen und installieren kann, hier begrenzt nur der eigene Speicherplatz. Auch für JAWS gibt es die Direkt-stimmen, die ohne SAPI-Schnittstelle auskommen und dadurch eine etwas schnellere Reaktion erlauben. Wer aber nicht weiß, dass man den eigentlichen Treiber noch manuell nachinstallieren muss, wird diese Stimmen nach der Installation jedoch nicht auffinden können. NVDA unterstützt auch die SAPI-Schnittstelle, die speziellen Stimmen werden allerdings ebenfalls nativ angesteuert, so dass die NVDA-Stimmen auch nur innerhalb nutzbar sind. Beide Screenreader können auch die in Windows integrierte Sprachausgabe oder Drittanbieter-Stimmen verwenden, die das SAPI-Protokoll (verschiedene Versionen) nutzen.
Im direkten Arbeitsvergleich mit den Werkseinstellungen zeigt sich, dass NVDA in fast allen Fällen etwas schneller reagiert. Die integrierten Windows-Anwendungen, wie der EDGE-Browser oder Windows-Store, sind mit NVDA nutzbar, mit JAWS hingegen bei der getesteten Version allerdings nicht. Hier greift man wahlweise zum veralteten Internet Explorer oder installiert sich einen kompatiblen Browser seines Vertrauens. Auch PDF-Dateien lassen sich nur mit NVDA im Edge-Browser lesen, der Adobe Reader ist für JAWS weiterhin erforderlich. Dafür punktet es in dieser Situation mit der Texterkennung, die in solchen Momenten hilfreich sein kann und mit wenigen Tastenkombinationen aktiviert wird. Die Tastenbelegungen sind umfangreich, JAWS bewirbt sich selbst als mächtigsten Screenreader. Das wird auch deutlich, wenn man sich das umfangreiche Konfigurationsprogramm anschaut. Für Laien ohne spezielle Anforderungen ist dies wahrlich zu viel des Guten. NVDA hingegen ist deutlich schlanker und übersichtlicher strukturiert, bietet aber vor Allem bei der Brailledarstellung weniger Funktionen. Hier ist man etwas eingeschränkt, was aber für die reine Textverarbeitung ausreicht. Mit Microsoft Office 2016 kommt JAWS ebenso gut zurecht wie NVDA, das allerdings in den letzten Versionen deutlichen Nachholbedarf zu verzeichnen hatte. Auch macht NVDA nur richtig Spaß mit Anwendungserweiterungen, die sich aus dem Programm heraus installieren lassen und zumeist in Englisch erläutert werden. Eine OCR steht in einer Beta-Phase auch zur Verfügung. Bei der normalen Nutzung verhalten sich beide in vielen Bereichen ähnlich, aber gemessen an der Reaktionszeit, den Standardanwendungen von Windows und den sehr tiefen Eingriffen in das System, darf man sich zurecht die Frage stellen, warum das Produkt so teuer ist. 499 Euro, vielleicht 999 Euro inklusive Magic als Bildschirmvergrößerung, wäre sicher ein absolut gerechtfertigter Preis. Vergleicht man nämlich die aktuelle Version mit den vorigen, scheint man auch nicht wirklich einen vollständigen Umbruch gewagt zu haben und schleppt weiterhin viel Ballast mit sich herum. Da ist die Werbeaussage mächtigster Screenreader nicht wirklich ein Prädikat.
JAWS verwendet ein Aktivierungssystem, das die missbräuchliche Nutzung verhindern soll. Eine zwar gängige Praxis, bei einer Zugangslösung jedoch moralisch nicht unbedenklich. Heutzutage ist ein Übergang auch mit NVDA oder dem Narrator zu bestreiten, früher jedoch standen blinde Anwender nach 40 Minuten quasi im Regen. Dolphin hatte lange Zeit auf eine Aktivierung verzichtet, schlussendlich diese dann aber eingeführt und dem Kunden ist eine eigenständige Deaktivierung nicht möglich. Auch ZoomText verwendet ein Aktivierungssystem, das drei gleichzeitige Instanzen erlaubt. Wer das nicht mag, kann in der USB-Version eine Lösung finden, hier kann zwischen der Aktivierung oder der Nutzung als Dongle unterschieden werden. Auch Dolphin bietet diese Lösung an, jedoch ist eine Installation bzw. Integration von Systemtreibern notwendig. Einzig NVDA läuft ohne Installation vom USB-Stick und verändert nichts am System, JAWS ist meines Wissens nach nicht als USB-Lösung erhältlich. Ich persönlich habe weitgehend Screenreader mit Aktivierungssystemen vermieden. Gerade wenn man mit verschiedenen Computern im Alltag arbeiten muss, ist diese Praxis sehr störend und selbst die kurze Installation verändert zu viel an einem Standardsystem. Hierin ist NVDA unschlagbar, weil es autark ohne jedwede Systemkoppelung auskommt. Eine Ausnahme gibt es allerdings, so benötigt die Sprachausgabe Vocalizer Expressive v3 eine Aktivierung, welche die Nutzung etwas einschränkt. Die integrierte eSpeak-Sprachausgabe steht allerdings immer zur Verfügung.
Fazit
JAWS und auch die anderen Mitbewerber haben im professionellen Umfeld eine absolute Daseinsberechtigung. Massive Skripte und die Anpassung an spezielle Anwendungsumgebungen, die auch die Nutzung durch Makros erleichtern, sind ein schlagender Vorteil, dem NVDA nicht viel entgegen setzen kann. Das kommt vor Allem denjenigen Anwendern zu Gute, die über keine tiefgreifenden PC-Erfahrungen verfügen. Für reine Standardanwendungen im privaten Umfeld und auch in vielen Arbeitsumgebungen bietet NVDA jedoch eine zeitgemäße Ausstattung, kommt mit nativen Microsoft-Anwendungen und Office zurecht, kann bedingt auch angepasst werden und ist vor Allem kostenlos. Kritikwürdig ist daher die große Preisdifferenz, die trotz Allem nicht mehr ganz zeitgemäß ist. Anwender, die nicht mehr als Windows nutzen, im Internet surfen, Mails schreiben und Textverarbeitung machen, brauchen JAWS und Co. nicht wirklich. Zu allem Überfluss wird auch der Microsoft Narrator immer besser und kann sogar NVDA in vielen Bereichen überflüssig machen. Schlussendlich kostet auch ein MacBook nicht mehr, als eine JAWS-Lizenz. Es ist abzusehen, dass die Sensibilisierung für barrierefreie Programmierung in den nächsten Jahren wachsen wird und sich die Betriebssystemhersteller schon heute immer mehr dieser Thematik annehmen. So müssen sich die Hersteller von. kommerziellen Screenreadern etwas überlegen müssen, um weiterhin mit dem umkämpften Markt Schritt halten zu können. Falls nicht, werden die heutigen Argumente für die hohen Preise sicherlich irgendwann nicht mehr ausreichen.
Ich bin vollständig blind und unterrichte erwachsene Späterblindete im Umgang mit PC und Mac. Meines persönlichen Erachtens nach haben ScreenReader wie JAWS heutzutage allerhöchstens im Umfeld komplexer Arbeitsumgebungen noch eine echte Existenzberechtigung. Die hierzulande geltenden Abverkaufspreise für z. B. Lizenzen für FreedomScientific-Produkte halte ich- liebevoll ausgedrückt- für eine Unverschämtheit, egal ob im Rahmen einer privaten anschaffung oder durch Kostenträger finanziert. Gleiches gilt für die seit der Markteinführung 1994 bis heute geltende Praxis der Folgekosten durch die so genannten SMAs, welche ich, hätte ich die notwendige Zeit und das notwendige Geld hierfür, durchaus schon mal gerne auf deren juristische Grundlagen hin durchleuchten lassen würde. Jeder, der gute Software entwickelt und entsprechende Investitionen leisten muss, soll gerne auch gutes Geld hierfür erhalten. Ob bei der Fortentwicklung kommerzieller Zugangshilfsprogramme- explizipt in Solche wie JAWS- allerdings heute noch wirklich ernstzunehmend hohe Investitionen fließen, möchte ich hiermit jetzt einfach mal ganz frech bezweifeln.
Die meisten meiner Schüler verwenden privat inzwischen NVDA und geben mir im Zusammenhang hiermit immer wieder überwiegend positives Feedback, auch und gerade bei der Verwendung unter Windows 10 und Office 365.
VoiceOver für Mac OS ist wunderbar, allerdings nur, solange man sich wirklich nur auf die Bordmittel des Mac, also auf z. B. TextEdit und Pages zur Textverarbeitung, Mail für Mails und Safari zum Browsen konzentriert. Die Zugänglichkeit nahezu aller auf Mac OS portierter Microsoft-Produkte dagegen ist aufgrund z. B. völlig fehlender Format-Infos bei Dokumenten derzeit völlig indiskutabel.
Insgesamt aber gehen Zugangshilfen, die von vornherein in die Betriebssysteme integriert werden, den auch zukünftig einzig richtigen Weg. Die Bereitstellung von Zugangshilfen sollte für weltweit jeden Computer-Anwender möglich und grundsätzlich kein provitables Handelsobjekt mehr sein.
Frankfurt, 30.12.2017
Martin Kirchner
Moin Martin, das hast Du schön zusammengefasst. Wobei ich glaube, dass diese Geschichte mit den SMA’s zumindest bei Freedom Scientific erst Mitte der 2000er eingeführt wurde. in den 90ern war die Software so unvollständig, dass man hier noch großzügig Updates verschenkte. Bei mir ging das von Version 1.1 bis 3.2, dann sollte ich bezahlen. Anscheinend haben die Entwickler übrigens meinen Beitrag gelesen, die neueste Version unterstützt wohl Edge und hat laut Optelec auch ein vereinfachtes Installationsprogramm erhalten.
Hallo Stefan
Ich kenne Dich noch aus früherer Zeit: Und da wirst Du mich wohl als unsachlichen Mekerer der Nation in Deinen Gedanken behalten haben? Doch das stimmt nicht: Ich bin aber nun einmal ein Mensch, der sagt/schreibt, was er denkt! Und zu Deinem Bericht zu Screenreadern, welchen ich gerade gelesen habe, kann ich nur sagen absolut toll! Kenntnis, Neutralität und sachlichkeit haben sich mit einander verbunden. Mach weiter so.
Gruß Volker
Moin Stephan!
Schön, wenn Dir mein Statement gefallen hat. Ich habe beruflich derzeit halt mit sehr vielen Klienten mit Migrationshintergrund zu tun, welche teilweise noch keinerlei echten Bleibestatus besitzen und von daher in Bezug auf irgendwelche Kostenübernahmen für Hilfsmittel keine großen Sprünge machen können. Auch und gerade für diesen Personenkreis bietet sich derzeit NVDA wirklich an, zumal NVDA- im gegensatz zu JAWS- einen sauber funktionierenden Interpreter für arabisch besitzt, was vielen meiner derzeitigen Klienten sehr zu Pass kommt.
Aktuell 59, habe ich noch etwa fünf Jahre Berufstätigkeit vor mir. Ich freue mich schon jetzt wie’n kleiner Junge darauf, als eine meiner ersten Amtshandlungen nach dem Renteneintritt sämtliche FS-Produkte, welche ich berufsbedingt derzeit auch noch privat installiert habe, restlos und ohne Rückfahrkarte von meinen Rechnern zu schmeißen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass NVDA nicht mehr lange brauchen wird, den derzeitigen Vorsprung von JAWS zumindest einzuholen, und auch die Zugänglichkeit der alltagsgebräuchlichen Computer von Hause aus wird sich meiner Überzeugung nach noch erheblich verbessern.
Das ist spannend, zumal ich jetzt nicht gedacht hätte, dass dies so ein großer Markt sein könnte. Und da triffst Du natürlich genau in die Wunde des Projekts, denn das war ja der ursprüngliche Ansatz. Alle sollten Zugang haben, unabhängig von den verfügbaren finanziellen Mitteln. Wenn Du mal überlegst, dass Du vor 25 Jahren rund 2.400 Mark für eine Apollo-Sprachausgabe zuzüglich rund 1.200 Mark für den Screenreader HAL ausgeben musstest, sind wir in diesem Punkt doch recht weit gekommen. Für diesen Preis bekomme ich heute einen top ausgestatteten iMac, der sogar direkt mit mir spricht. Und auch der Narrator wird zusehens besser, das ist eine aus meiner Sicht gute Entwicklung, auch wenn die Branchengrößen immer mehr Erklärungsnöte haben, warum ein Screenreader tausende Euro kosten muss, aber scheint noch zu klappen, ich sehe einen Zusammenbruch der Branche in frühestens 10 Jahren voraus.
Schöner Vergleich und sehr realistisch. Danke für den Artikel. Meiner Meinung nach wurde, übertrieben gesagt, ein asozialer Markt für ein soziales Produkt geschaffen. Ein Screenreader bietet einen Zugang zu fast uneingeschränkter Bildung, zu sehr vielen Arbeitsplätzen und es hilft dabei, sehr viele behinderungsbedingte Differenzen auszugleichen. Demnach sollte ein Screenreader eigentlich eine soziale Bewegung sein und kein Produkt, woraus man kapital aufbauen soll. Ich sehe keinen Grund, warum ein Hersteller von Screenreadern gezwungen sein sollte den Anwender zur Kasse zu bitten. Mit einer wirklich sozialen Philosophie hinter dem Produkt hätte man sehr viele Spender und Sponsoren, die eine entsprechende Vision unterstützen würden. Stichwort christliche Blindenmission, verschiedene Nichtregierungsorganisationen, Entwicklungsbanken etc.
Das kann man so nicht sehen. Im Grunde genommen waren Herr Papenmeier, Herr Baum, Herr Reinecker und Herr Frank auch Start-Ups, die sich überlegt haben, ein Produkt zu entwickeln. Baum und Frank deshalb, aufgrund ihrer eigenen Blindheit, Papenmeier, weil er einen kannte, der Hilfe brauchte. Das erste Vorlesesystem, der Personal Reader, wurde von Ray Kurzweil nur deshalb entwickelt, weil er mit Stevie Wonder befreundet war und der ihm sagte: „Bau mir mal ein blindengerechtes Keyboard“, dann kam der K-250. Daher wäre es jetzt sicher nicht fair, dass man das ursprüngliche Schaffen abwertet. Es war ja bis Ende der 90er Jahre nicht einmal so, dass man überhaupt ein Hilfsmittel ohne Weiteres bezahlt bekam. Die Apollo Sprachausgabe für 2.400 Mark zuzüglich HAL für DOS für weitere 1,800 Mark war das Günstigste, was man überhaupt bekam und wenn die Krankenkassen mitspielten, klappte das. Aber das war alles nicht geregelt und hätten nicht einige Lobbyisten der Blindenverbände gemeinsam mit den Herstellern die Kühe so fleißig gemolken, gäbe es die heutigen Regelungen im Medizinproduktekatalog sicher so nicht.
Was neue Entwicklungen angeht habe ich in den letzten 25 Jahren mit unendlich vielen Menschen gesprochen, die einfach gute Ideen hatten. Ideen, die in der Praxis komplett nutzlos waren, weil sie idealistisch ein Problem ohne Kenntnis der Materie lösen wollten. Da hatten es Herr Frank und Herr Baum einfacher, die wussten, was gebraucht wird. Ich selbst bin ja nun auch jetzt im 20. Jahr dabei, aber als Einzelkämpfer hat man keine Chance. Es würde also nicht genügen, weitere kleine Firmen zu gründen, von denen es schon unzählige gibt und die auch nicht besser arbeiten als die großen, man müsste auch das Sozialsystem abschaffen und alles dem Markt überlassen. Dann würden vermutlich auch die Gerätepreise sinken, aber jeder Blinde könnte nur dann eine Ausbildung machen, wenn er sich seinen Kram selbst finanziert. Daher sollte man mit dem Ist-Zustand schon zufrieden sein, so viel bewilligt wie in den letzten Jahren wurde zuvor nie. Dabei spielt es nicht mal eine Rolle, ob das Hilfsmittel überhaupt genutzt wird, ich kenne auch unzählige Blinde, deren versorgte Produkte im Schrank auf den späteren Verkauf warten. Das ist eigentlich viel schlimmer, weil man so auch das Sozialsystem unnötig schädigt. Jedem das, was er braucht, aber nicht so.
Sehr interessanter Artikel und ja, NVDA ist ein tolles Stück Software. Ich bin aber nicht blind, sondern teste NVDA nur lediglich wegen meines Projektes isl (i s l) (information styling language), welches unter GitHub zu finden ist.