Letzte Aktualisierung am 9. Februar 2022
Am 20. September 2021 war es soweit und der tschechische Hersteller Matapo überraschte selbst mich mit einem neuen Tastenhandy für blinde Menschen. Wobei diese Beschreibung deutlich untertrieben ist, denn für 450 Euro bekommt man allerhand Technik in Smartphone-Qualität geboten, auch der Verpackungsinhalt kann sich sehen lassen. Eigentlich ist alles Wichtige dabei, lediglich die Tasche und Bluetooth-Beacon sind optional erhältlich. Ich habe eines der ersten Exemplare erhalten und war schon kurz nach dem Auspacken positiv überrascht. Das war nicht immer so, denn das BlindShell Touch hat mich überhaupt nicht begeistern können. Inzwischen habe ich auch die akustische Bedienungsanleitung fertiggestellt.
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Auch erhältlich beim Deutschen Hilfsmittelvertrieb in Hannover.
BlindShell Classic 2, fast alles richtig gemacht
Das hätte man durchaus besser kommunizieren können, so folgt das BlindShell Classic 2 dem BlindShell Classic 2. Dabei waren die erste Version und der Vorgänger optisch identisch, bis auf das schnellere Innenleben und die Ladekontakte unterschied sich das alte BlindShell Classic 2 vom Vorgänger kaum. Ein Blick in dessen Geräteinfos zeigt den eigentlichen Namen: Matapo BlindShell Classic HW 2, also nur bezogen auf die Hardware. Das neue BlindShell Classic 2 ist hingegen ein vollkommen anderes Gerät und nun als wirklicher Nachfolger einzuordnen. Okay, ich hätte es BlindShell Infinity genannt, aber man hat mich leider nicht gefragt.
Die Unterschiede beginnen beim Gehäuse und weiter über die 13-Megapixel-Kamera, WiFi nach AC-Standard, 16 GB interner Gerätespeicher und enden längst nicht bei der Fähigkeit, große microSDXC-Karten jenseits der 128 GB nutzen zu können. LTE ist ebenfalls mit an Bord, Dual-SIM und NFC, Bluetooth 4.2 mit Unterstützung für hochauflösendes Audio per AAC und möglicherweise auch aptX, sowie ein SoC mit guter Leistung, der jedes Symbian-Smartphone von Nokia überflügelt. Abgerundet wird das von einem Akku mit 3000 mAh, dessen Standby-Zeit selbst einem iPhone 13 Pro Max das Fürchten lehren könnte.
Was ist neu am BlindShell Classic 2?
Das etwas kantige Gehäuse mit dem gerundeten Backcover wirkt schon Retro, in meinem Fall in Rot gehalten. Die Farbe finde ich schicker als langweiliges Schwarz, es knarzt rein gar nichts, die Tasten haben einen spür- und etwas hörbaren Druckpunkt. Die SOS-Taste auf der Rückseite liegt plan im Gehäuse, die Kamera befindet sich darüber. An den kurzen Seiten unten liegt die USB-Buchse, oben links die Kopfhörerbuchse und oben rechts die Taschenlampe, die mit der zugehörigen Anwendung aktiviert wird. Ein vergleichsweise erstaunlich gut klingender Lautsprecher strahlt zur Vorderseite und liegt direkt unterhalb des Tastenfelds. Links unten lässt sich das beiliegende Lanyard anbringen, eine Art Halsband, das wahlweise auch an die optionale Tasche passt. Das ist gut so, denn zum Laden im Dock muss man es aus dieser entnehmen.
Für manche gewöhnungsbedürftig wird sein, dass man das BlindShell Classic 2 nicht einfach in den Standlader hinein stellen kann, sondern es muss mit leichtem Druck auf den Type-C-Stecker gedrückt werden. Erst wenn es vibriert, ist der Kontakt hergestellt. Schön ist, dass die Anschlüsse durchkontaktiert sind, so dass man ihn auch am Computer als Lade-Dock einsetzen und Daten austauschen kann.
Zwar hat sich die Bedienung grundsätzlich nicht verändert, wohl aber die Tastenanordnung. Ein Custom-ROM mit der eigens für das BlindShell entwickelten Oberfläche lässt sich mit vier Tasten bedienen und erlaubt so die Steuerung aller Funktionen. Das Gehäuse ist minimal größer und 13,52 cm lang, 5,4 cm breit und 1,67 cm dick. Mit rund 150 Gramm wäre es vor 20 Jahren noch irre schwer gewesen, im Vergleich zu aktuellen Smartphones mit Riesendisplay ist es dagegen ein Fliegengewicht. Dabei wird die gerade Oberseite für die Tastatur sehr gut genutzt, große konvexe Zifferntasten mit ausreichendem Abstand und sechs Steuertasten mit zum Teil eindeutigen Formen reduzieren auf den ersten Blick das Tastenfeld um drei Tasten. Auf den zweiten findet sich die Lautstärkewippe auf der linken Seite und eine Favoriten-/Sprachsteuerungstaste auf der rechten. Die Vier-Wege-Navigationstaste ist zwei Pfeiltasten zur Menübedienung gewichen, diese erfolgte zuvor durch die Tasten Links und Rechts. Die Tasten Oben für den Status und Unten zum Stummschalten sind über die Anruf- und Auflegetaste unter das Display gewandert, das ist deutlich übersichtlicher. Die Okay-Taste wurde ersatzlos gestrichen, bestätigt wird nun mit der Anruftaste über Ziffer 1, aufgelegt und abgebrochen wird mit dem Knopf mit diagonalem Strich über Ziffer 3.
Wenig überraschend ist, dass bereits bekannte Anwendungen weiterhin mit an Bord sind, dazu zählt die DZB-Lesen-App, Spiele wie Memory und Mau Mau, Telegram-Messenger und das E-Mail-Programm. Ganz so stimmt das jedoch nicht, denn einige müssen erst manuell installiert werden. Dafür steht der eigens für das BlindShell angebotene Download-Store zur Verfügung, hier werden kompatible Anwendungen zur Installation angeboten, die auch wieder vom BlindShell Classic 2 entfernt werden können. Es sind zwar native Android-Applikationen, aber sie müssen mit der speziellen Bedienung kompatibel sein und werden daher von Matapo gesondert bereitgestellt. Dadurch stehen auch der Facebook Messenger Lite, Skype Lite, WhatsApp und Google Lookout zur Verfügung, so dass das neue BlindShell Classic 2 genauso gut als Produkterkennungssystem und Vorlesegerät taugt. Zu diesem günstigen Preis werden nun Lesesystem und Einkaufsfuchs wirklich obsolet, beides zusammen würde mehr als zehn BlindShell Classic 2 kosten und telefonieren kann man damit auch nicht. Daraus folgt, dass langsam die Zeit der kostspieligen Spezialgeräte für Blinde vorbei ist und man mit dem BlindShell Classic 2 ein umfassendes Gesamtpaket mit Tastatur bekommt. Allerdings gibt es noch deutlich Luft nach Oben und ich bin auf künftige Updates gespannt.
Das BlindShell 2 in der Praxis
In Verbindung mit der optionalen Tasche und dem Bluetooth-Beacon hat man alles, was man benötigt und für ein frisches Produkt läuft das Ganze wirklich zuverlässig. Nach dem Einschalten wartet man rund eine Minute, bevor es losgeht, das Vorgängermodell war etwas zügiger unterwegs. Auch hat man die Signaltöne verändert, sie klingen gedämpfter und angenehmer. Die Telefonqualität bewegt sich eher auf Durchschnittsniveau, dafür ist auch das Aufzeichnen von Gesprächen möglich, die Dateien landen dann als Sprachnotiz im Gerät. Etwas blöd ist die zu hohe Mindestlautstärke für Telefonate, so zerrt der Lautsprecher bei maximalem Pegel und der niedrigste Wert ist mir noch etwas zu laut. Dies sollte man vielleicht noch angleichen, zumal sich die Qualität auch auf die Freisprechfunktion auswirkt. Ein zweites Mikrofon dämpft Nebengeräusche, das klappt auch ganz ordentlich. Hier zeigt sich aber schon ein Unterschied zu Smartphones heutiger Bauart, das iPhone SE 2020 und Nokia 8.3 5G klingen schon besser. Näherungssensor und Frontkamera scheinen zu fehlen, gerade ein Sensor hätte zum automatischen Umschalten in den Freisprechmodus helfen können.
Die Bedienung mit nun vier Tasten für das gesamte Menü klappt außerordentlich flüssig, das gilt auch für die Reaktionszeit. Umgewöhnen muss man sich bei den Tasten direkt unter dem Display, vom Vorgänger kommend wird man intuitiv damit die Sprachlautstärke regeln wollen, ehemalige Symbian-Nutzer könnten sie mit Taste 1 und 2 verwechseln. Das geht natürlich beides nicht, wie erwähnt sind sie den Funktionen Status und Unterbrechen zugeordnet. Daran kann man sich gewöhnen und drückt man versehentlich Status, geht es mit Auflegen direkt wieder zurück zur letzten Position. So hat man stets Zugriff auf neue Nachrichten und Statusinformationen, ohne die Anwendung verlassen zu müssen. Bei Internet-Radio wird die Wiedergabe für den Moment unterbrochen und anschließend wieder fortgesetzt. Ein FM-Radio gibt es übrigens auch, dies funktioniert jedoch nur mit angeschlossenem Kabel-Headset, das als Antenne dient und dem Paket beiliegt.
Die Standortbestimmung ist ebenfalls möglich und gibt Auskunft über die aktuelle Position, eine vollständige Navigation ist derzeit nicht verfügbar. Hier allerdings ist die Genauigkeit wie bei den Vorgängern recht gering, vermutlich verlässt man sich lediglich auf die Sensoren und berücksichtigt nicht die APRS-Daten. Weitere Sensoren wie Kompass, Höhenmesser und Barometer sind integriert, können aber mit den derzeitig verfügbaren Anwendungen nicht ausgelesen werden. Somit ergibt sich auch hier einiges an Potential, wie ein blind bedienbarer Kompass oder Anzeige der Raumtemperatur.
Die Einschränkungen des BlindShell Classic 2
Obwohl das BlindShell Classic 2 grundsätzlich bei dem Funktionsumfang fast schon als Smartphone durchgehen kann, gibt es dennoch kleine Einschränkungen, mit denen Käufer derzeit noch leben müssen. Matapo hat in der Vergangenheit gezeigt, dass eine lange Produktpflege gegeben ist, selbst das erste BlindShell Barok bekommt heute noch Updates. Hier allerdings hat man nun durch den Store die Geräte-Firmware von den Apps getrennt, so dass kleine Updates unkompliziert und auf Wunsch automatisch per OTA eingespielt werden können, dadurch entfällt das lästige Kompilieren des ganzen Systems bei nur kleinen Optimierungen. Die gute Nachricht ist, dass das System dadurch beliebig erweitert werden kann und durch die nun eigene Steuerung abseits von TalkBack lassen sich die Anwendungen genauso wie die eigenen Tools bedienen. Das setzt natürlich voraus, dass die Steuerung funktioniert und daher wird nicht auf den Play Store zurückgegriffen. Dadurch fehlen viele Apps und nicht jede könnte auch bedient werden. Hier muss man schauen, in wieweit das für den Alltag funktioniert, spätestens bei Corona-Warn, Ausweis 2 und Push-TAN werden die Grenzen des BlindShell Classic 2 erreicht sein. Dank NFC und Android ist das aber die spannende Frage, ob nicht mobiles Banking sogar möglich wäre. Ob und in wieweit Sideload Mittels adb möglich ist, entzieht sich meiner Kenntnis, den Entwicklermodus kann man ohne Weiteres jedenfalls nicht aktivieren. Selbst ausprobieren ist also schwierig.
Eine weitere Einschränkung finden primär geschäftliche Nutzer in der nach wie vor nicht gegebenen Möglichkeit, ein Google- oder Exchange-Konto einzubinden. Auch werden CalDAV und CardDAV nicht unterstützt, das kommt hoffentlich noch. Die Lücke zum Smartphone wäre dann nämlich deutlich enger und das BlindShell Classic 2 würde auch für die geschäftliche Nutzung taugen. In meinem Fall fehlt somit der Abgleich zu Familienadressbuch und -Kalender, wie bisher müssen diese über die Datei contacts.vcf importiert werden und lassen sich auf ähnliche Weise exportieren.
Ebenso schwierig ist der Zugriff auf Dateien in der Cloud und selbst auf die microSD-Karte, ein Dateimanager fehlt nämlich. Die Apps speichern ihre Inhalte in speziellen Ordnern, die händisch über den PC erstellt werden müssen. Das könnte auch beim Formatieren der Speicherkarte im Gerät automatisch erledigt werden. Wirklich furchtbar finde ich den schon aus vorigen Versionen bekannte Music Player. Dieser ist so rudimentär, dass weder Cover angezeigt werden, noch gibt es verschiedene Wiedergabe-Modi wie Shuffle und Repeat, nicht mal einen Sleep-Timer. Metadaten kann er auslesen und sortiert nach Künstler und Album, Titel sind allerdings mit Lieder übersetzt. Einen Titel kann man anhören, löschen oder in eine Favoritenliste übernehmen, damit baut man sich quasi eine eigene Playlist. Bezogen auf große Speicherkarten ist das schade, das BlindShell Classic 2 hätte das Potential zu einem richtig guten Medienspieler, einschließlich der Wiedergabe von hochauflösenden Dateiformaten. VLC oder andere Open-Source-Player könnten hier so viel mehr und wären durchaus eine Alternative. Vielleicht kommt das aber noch, warten wir es ab, so wäre auch eine Mediathek für Fernsehsender ganz nett.
Als wirklich kritisch sehe ich aktuell den Punkt Datenschutz. Es gibt im BlindShell Classic 2 keine Belehrung über die erhobenen und verwendeten Metadaaten, auch wurde ich zu keiner Zeit explizit zur Zustimmung der Datennutzung gefragt. Gemäß Datenschutzgrundverordnung ist dies eigentlich für Hersteller verpflichtend, wenn die Geräte mit dem Internet kommunizieren. Beim Vorgänger sah ich das weniger kritisch, hier aber mit Drittanbieter-Apps und Erweiterungsmöglichkeiten sollte man entsprechend nachbessern. Somit ist für mich als Anwender sehr intransparent, welche Metainformationen das Gerät verlassen und welche Rückschlüsse auf mich als Anwender gezogen werden könnten. Sofern dem Hersteller bekannt wäre, welcher Kunde welche Seriennummer nutzt und das Gerät entsprechend registriert wird, wäre hier einiges denkbar, ohne Matapo natürlich böse Absichten zu unterstellen. Aber in einer digitalen Welt, auch wenn die Geräte in ihrer Funktion eingeschränkt sind, sollte man auf Datenschutz besonders achten, das schafft auch Vertrauen.
Das Zubehör zum Matapo BlindShell Classic 2
Neben der optionalen Kunstledertasche mit guter Haptik gibt es einen quadratischen Bluetooth-Beacon. Dieser kann dazu verwendet werden, um Gegenstände aufzufinden, ähnlich wie beim Apple AirTag, nur etwas eingeschränkt. Man kann ihn mit einem Schlüsselring beispielsweise am Blindenstock befestigen und diesen auffinden lassen, mehrere Tags können optional eingesetzt werden.
Mit NFC-Tags lassen sich Gegenstände ebenfalls markieren, das ist zuverlässiger als die zuvor genutzten optischen Tags. Bei CDs und Büchern sollte der Strichcode ausreichen, den Google Lookout aus der zentralen Datenbank abfragt, Internet-Verbindung im eigenen WiFi-Netz oder mobil sind dazu natürlich nötig.
Fazit
Das BlindShell Classic 2 ist nun der echte Nachfolger zum BlindShell Classic und der Version mit überarbeiteter Hardware. Es kann alles, was wichtig ist, einschließlich WhatsApp und Google Lookout, damit wird es obendrein zum Texterkenner und Produktfinder. Einiges fehlt allerdings, wobei der Anwendungs-Store auf weitere Features hoffen lässt.
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